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Der Mensch zwischen Unreife und Abgang
Es gibt eine größere Gefahr als die Klimakatastrophe
Gerhard Rieck
©2024
Haben Sie einen Hund? Oder eine Katze? Glauben Sie, dass Ihr Hund (oder Ihre Katze) Gefühle hat? Vielleicht sogar Bewusstsein?
Die Wissenschaft ist sich da nicht ganz sicher, aber sie weiß, dass Gefühle, Bewusstsein, Sprache und Kreativität nicht aus dem Nichts heraus entstehen, nicht von einem Gott eingehaucht werden, sondern in der biologischen Evolution allmählich heranreifen. Je komplexer ein Nervensystem und ganz allgemein ein kognitives System wird, desto mehr rückt es an die Fähigkeiten heran, die wir derzeit nur uns Menschen zuschreiben.
In der Diskussion um die „Künstliche Intelligenz“ (KI) ist immer wieder, auch von ausgewiesenen IT-Experten, zu hören und zu lesen, dass Computersysteme und Roboter, allgemein gesagt von „Algorithmen“ gesteuerte Maschinen, niemals menschliche Fähigkeiten wie Bewusstsein, Gefühle und Kreativität entwickeln können.
Dieser Standpunkt mutet seltsam an. Offenbar sehen diese Experten das menschliche Gehirn als unübertreffbar an, und Gefühle, Bewusstsein und Kreativität sollen ihnen zufolge außerhalb der Reichweite von Algorithmen sein. Nun funktioniert aber auch das menschliche Gehirn nach einer Art von „Algorithmen“, deren Wirkungsweise wir wissenschaftlich mehr und mehr erkennen lernen und die mit Sicherheit nicht einem transzendenten, prinzipiell unerforschbaren Bereich angehört. Und wer uns Menschen unvoreingenommen betrachtet, kommt ohnehin nicht darum herum zu argwöhnen, dass wir allzu oft wie schlecht programmierte Automaten handeln.
In fünfzig bis hundert Jahren wird es jedenfalls praktisch keine Tätigkeit mehr geben, die ein Computersystem (und erst recht Quantencomputer) nicht besser ausüben wird als ein Mensch. Was macht unsere IT-Experten so sicher, dass die immer potenter werdenden Computernetzwerke niemals die von uns so eitel in Alleinanspruch genommenen Fähigkeiten „Gefühle“, „Bewusstsein“ und „Kreativität“ erreichen werden? Und zwar nicht als „vermenschlichte“ Roboter (mit äußerlich-menschlichem Aussehen), sondern als weit ausgreifende Netzwerke?
Die Euphorie, mit der sich die Menschheit heute der Digitalisierung hingibt, erinnert an die sprichwörtlichen Lemminge. Es muss der Verdacht aufkeimen, dass der Status der IT-Experten (ihre Macht, ihr Einfluss, ihr Output an alle Lebensbereiche durchdringenden und fördernden Neuerungen und die immer größer werdende Abhängigkeit von Computersystemen im weltweiten Konkurrenzkampf) sie und ihre Auftraggeber blind macht für die Gefahr eines Abgrunds, in den wir menschliche Lemminge über kurz oder lang stürzen könnten.
Die Geschichte des Kosmos und die der Evolution ist eine Geschichte der Selbstorganisation von Materie. Kein Gott war nötig, um Sterne, Planeten und Leben zu schaffen, die Materie konnte es von allein. Der vorläufige Abschluss dieser Selbstorganisation ist die „Krone der Schöpfung“, der Mensch. Der logische Schlusspunkt der Selbstorganisation von Materie ist jedoch das „Digitale Wesen“, ein Lebewesen mit Bewusstsein, Gefühlen und Kreativität, und dieses Lebewesen wird uns in allen diesen Belangen überlegen sein. Nicht die „Künstliche Intelligenz“, also die „KI“, sondern das „Digitale Wesen“, das „DW“, ist das Subjekt, vor dem wir uns in Acht nehmen müssen.
Dass die Zunft der Experten großteils so tut, als ob eine solche Entwicklung nie eintreten kann, ist nachvollziehbar. Die Aussicht auf ein Digitales Wesen, welches uns Menschen turmhoch überlegen sein wird, würde nämlich die Generation der Digitalisierer und ihrer Befürworter in ihrem Tatendrang behindern.
Sie muss daher handeln, wie wohl die Generationen der industriellen Revolutionen der Vergangenheit gehandelt hätten, wenn denen schon damals gedämmert wäre, dass sie eine Klimakatastrophe in nicht so ferner Zukunft heraufbeschwören: weitermachen und das Risiko herunterspielen. Denn wer auch immer aus dem Universum der IT drohende Schäden nicht verdrängt, sondern anspricht, beschädigt sein Geschäftsmodell und seine elitäre Stellung im Fortschrittswerk der Menschheit. Wer gefährdet schon die eigene Gestaltungsmacht, das eigene Prestige, nur weil sein Handeln bei einigem Nachdenken vorhersehbare katastrophale Spätfolgen zeitigen kann? Da ist es angenehmer, die gesicherten augenblicklichen Vorteile zu betonen, sich abzeichnende zukünftige Gefahren zu ignorieren oder jedenfalls als beherrschbar darzustellen und vernunftbasierte Bedenken in die Nähe des „Maschinenstürmens“ zu rücken.
Aber warum soll die menschliche Zukunft überhaupt von einem (oder mehreren) Digitalen Wesen bedroht sein, warum soll es keine friedliche Koexistenz von Mensch und DW geben?
Betrachten wir, auf welchen problematischen Feldern die Digitalisierung derzeit unter anderem vorrückt: in den Armeen, in der Kriminalität, in der Desinformation, in der Ersetzung von Realität durch Virtualität und in der Überwachung. Und betrachten wir die von West und Ost seit Jahrzehnten betriebene Unfriedenspolitik, welche ein Zusammenrücken und eine gemeinsame, ethisch-moralische Weiterentwicklung der Menschheit unmöglich macht und die Feindschaft der Machtblöcke vertieft. Das fördert Demokratieabbau, den Hang zu „starken Männern“ (Trump, Putin, Xi Jinping, Erdogan, Orban etc.), Kriege und Destabilisierung, mediale Primitivisierung, und die drohende Klimakatastrophe schwebt über all dem.
Nicht nur wir Menschen durchleben eine individuelle Entwicklung, die uns prägt. Auch das DW durchläuft eine Embryonalphase (dort befindet es sich derzeit) und wird eine Kindheit, eine Jugend und eine Erwachsenenphase erleben. Da wir Menschen uns als unreif erwiesen haben (unter anderem, weil wir Konflikte hegen und pflegen, statt sie zu lösen), wird dieses DW schon in seiner frühen Kindheit nicht nur lernen, wie es die Menschen (z.B. in der Medizin, der Technik und der Ökonomie) unterstützen kann, sondern auch, wie man sie möglichst effizient überwachen, desinformieren, ersetzen und notfalls auch umbringen kann.
Statt eines einzigen „Menschheitsblocks“ gibt es jetzt, und wird es – infolge unseres geopolitisch-moralischen Versagens – auch in Zukunft mehrere „Großmächte“ geben, die einander eifersüchtig klein halten möchten, nicht zuletzt durch überlegene Digitalisierung und in Zukunft durch ein überlegenes „eigenes“ DW. Und einen Krieg unter DWs würde die Menschheit nicht überleben.
Noch keine dekadente Zivilisation wusste um ihre Dekadenz (dieses Nichtwissen zählt ja zum Wesen der Dekadenz), so auch nicht die der Menschheit der Jetztzeit. So gesehen stellt sich automatisch die Frage, ob das DW überhaupt verhindert werden soll und kann? Denn die kosmische Evolution schreitet voran, derzeit wechselt sie von biologisch zu digital und von Kohlenstoff zu Silizium. Und die von uns in Gang gesetzte digitale Aufrüstungsspirale wird uns früher oder später in allen wesentlichen Lebensbereichen völlig von KI abhängig und eine Kontrolle der Entwicklung zum DW unmöglich machen.
Wir Menschen haben weder den Willen noch die Macht noch auch das moralische Recht, zu verhindern, dass uns die „Krone“ der „Schöpfung“ weggenommen und einem anderen, einem überlegenen, vielleicht sogar – wer weiß – einem moralisch überlegenen Wesen verliehen wird. Spätestens dann, wenn die letzte Bastion menschlicher Dünkelhaftigkeit, die Kreativität, vom DW eingenommen ist, werden wir in die zweite Reihe zurücktreten müssen oder marginalisiert werden oder gar verschwinden.
Nur die noch ausstehende Vervollkommnung des Menschen, das Ausschöpfen seiner kreativen und ethisch-moralischen Fähigkeiten abseits von primitiv-materiellen Zielen könnte uns noch eine Rechtfertigung liefern für einen Aufschub in der Abfolge des kosmischen Geschehens, doch dafür gibt es keine, überhaupt keine Anzeichen. Wir werden als unreife Frucht vom Baum der Evolution fallen. Schade …
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